Harry Graf Kessler

Harry Graf Kessler lebte um die Jahrhundertwende. Der vielseitig Begabte und Interessierte stellte sein Vermögen und seine gesellschaftlichen Verbindungen in den Dienst mäzenatischer Aufgaben. 1868 geboren als Sohn eines Hamburger Bankiers und einer irischen Adeligen, wuchs er in Paris, London und Hamburg auf. Sein Elternhaus war bestimmt durch die großbürgerlichen Kontakte des Vaters und die künstlerischen Ambitionen der Mutter, die unter verschiedenen Pseudonymen Unterhaltungsromane und Theaterstücke schrieb.
Den Möglichkeiten seiner gesellschaftlichen Stellung folgend, strebt Kessler zunächst die Diplomatenlaufbahn an, als deren Grundlage er 1888 sein Jurastudium in Bonn beginnt und einige Jahre später in Leipzig mit Promotion abschließt. Während des Studiums besucht er auch Literatur- (H. Usener), Psychologie- (W. Wundt) und Kunstvorlesungen (A. Springer). Nachdem eine diplomatische Karriere an Widerständen aus dem Auswärtigen Amt gescheitert ist, konzentriert er sich auf mäzenatische Aufgaben. Er ist es hauptsächlich, der die Aufmerksamkeit in Deutschland auf den französischen Impressionismus lenkt.
Kessler arbeitet an der Berliner Kunst- und Literaturzeitschrift PAN mit, initiiert den Deutschen Künstlerbund zur Förderung aktueller, progressiver Kunst und unterstützt Künstler wie Johannes R. Becher, Edvard Munch, Aristide Maillol, Detlev von Liliencron, Rainer Maria Rilke. Während seiner Zeit als Direktor des »Grossherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe« in Weimar versucht er, dort ein Zentrum kultureller Erneuerung aufzubauen. Er hat bereits zuvor auf die Berufung Henry van de Velde dorthin zur Gründung eines »Kunstgewerblichen Seminars« hingewirkt, aus dem sich später das Bauhaus entwickelte.
Unter den Freundschaften sind besonders die mit Eberhard von Bodenhausen, Henry van de Velde und Hugo von Hofmannsthal hervorzuheben. Mit letzterem zusammen verfaßt er den »Rosenkavalier« und das Ballett »Josephslegende«.
Kesslers Gründung der Cranach-Presse setzt bibliophile Maßstäbe in Deutschland. In Zusammenarbeit mit Schriftstellern, Künstlern und Grafikern entstehen Klassiker der modernen Buchkunst.
Mit dem Ersten Weltkrieg verlagern sich Kesslers Interessenschwerpunkte wieder auf den politischen Bereich. Er ist nur kurz als Reserve-Offizier an der Front; nach seiner Rückkehr leitet er in Bern die deutsche Kulturpropaganda. 1918 reist er als erster deutscher Gesandter nach Warschau, wird jedoch bereits nach wenigen Wochen des Landes verwiesen - die politisch verworrenen Verhältnisse zwischen Deutschland und Polen stehen seinen Bemühungen um Verständigung entgegen. Er entwickelt Ideen zu einem Völkerbund und wird kurzzeitig Präsident der Deutschen Friedensgesellschaft. Der Versuch, 1924 ein Reichstagsmandat zu erlangen, mißlingt. In der Folge gibt er seine politischen Ambitionen weitgehend auf und konzentriert sich auf die Arbeit mit der Cranach-Presse. Über Walter Rathenau, den er seit den frühen Berliner Jahren gekannt hat, schreibt er eine Biografie.
1933 kehrt Kessler nach Warnungen durch Freunde von einer Parisreise nicht mehr nach Deutschland zurück. Er lebt im Exil zunächst auf Mallorca, dann bei seiner Schwester in Südfrankreich. Während dieser Jahre arbeitet er intensiv an seinen Memoiren, deren erster Band 1935 erscheint. Die weiteren Bände kann er nicht mehr fertigstellen; Kessler stirbt am 30. November 1937 in Lyon.
Über sechs Jahrzehnte hinweg (1880-1937) führt Kessler fast lückenlos Tagebuch. Seine Hauptthemen sind Literatur, Bildende Kunst und vom Ersten Weltkrieg an verstärkt auch Politik. Es wird weniger über die eigene Befindlichkeit berichtet; vielmehr werden Impressionen und Reflexionen festgehalten sowie Gespräche protokolliert. In einigen Teilen waren die Tagebücher als Erinnerungsstütze für geplante Veröffentlichungen gedacht.
Durch den großen, breitgefächerten Kreis von Kesslers Aktivitäten und Bekanntschaften ist das Tagebuch von unschätzbarem Wert für die Zeit- und Kulturgeschichte.
Kontakt
Deutsches Literaturarchiv Marbach
Kessler-Projekt
Postfach 1162
71666 Marbach a.N.
Telefon +49 (0) 7144 / 848-111
E-Mail kessler-projekt@dla-marbach.de