Ausstellungseröffnung am 27. September: Kassiber. Verbotenes Schreiben. Mit Fritz J. Raddatz, Liao Yiwu, Herbert Wiesner und Ulrich Raulff

»Wenn ich wegkommen sollte, gilt: Datum ohne Ortsangabe heisst: ich bin fortgeschafft. Ort ergibt sich dann aus den Anfangsbuchstaben der Worte 1,2,3,4 in den entsprechenden Zeilen. Küsse, Küsse, Küsse, mein Engel Du. Könnte ich Dich doch sehen! Küsse Hans«. Aus dem Berliner Hauptgefängnis der Gestapo schrieb Hans von Dohnanyi an seine Frau Christine im Jahr 1945 verschlüsselte Botschaften, Kassiber, versteckt in Lebensmitteln.
Geheime Korrespondenzen, kleine Zettel und große poetische Texte: Die neue Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne »Kassiber. Verbotenes Schreiben« dokumentiert in 10 Kapiteln und einem in Verbindung mit PEN Deutschland eingerichteten Ausstellungsraum Schreibprozesse unter extremen Bedingungen, Schreiben hinter Gittern oder gegen das Diktat des Schreibverbots.
Geheime Nachrichten vertrauen sich singulären Wegen und Objekten an und setzen mit politischer Kreativität die bestehende Macht außer Kraft, sie wandern unter der Hand von Zelle zu Zelle oder ins Freie. Geschmuggelt, maskiert, verschlüsselt kann ein Text die Gestalt eines Projektils annehmen. Von der »Tristia« des verbannten Dichters Ovid, über die Odyssee des »Doktor Schiwago«-Typoskripts, von Texten des inhaftierten Walter Kempowski bis hin zu unveröffentlichten Kassibern des chinesischen Schriftstellers Liao Yiwu zeigt die Ausstellung ein großes Panoptikum verbotener Schriften, die von einer ganz eigenen Geschichte innerer Freiheit und Selbstbehauptung Zeugnis ablegen. Die unbändige Kraft der Sprache bleibt das letzte Refugium – bis in die Gegenwart, in der politisch Verfolgte im Web 2.0 ihre Stimme erheben.
Zur Eröffnung der Ausstellung spricht der Literaturkritiker und Schriftsteller Fritz J. Raddatz. Anschließend liest der chinesische Dichter und Musiker Liao Yiwu, der in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird, aus im Gefängnis entstandenen unveröffentlichten Texten. Es begrüßen Herbert Wiesner, Generalsekretär des deutschen PEN-Zentrums, und der Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Ulrich Raulff. Die Leiterin des Museums, Heike Gfrereis, hat die Ausstellung zusammen mit Ellen Strittmatter (Museum) entwickelt; Diethard Keppler und Marcus Wichmann haben das gestalterische Konzept entworfen.
Der schreibende Gefangene ist nicht der Gefangene der Schrift, wohl aber stellt er sich in eine literarische Tradition. Große Texte wie der »Trost der Philosophie« von Boethius, Oscar Wildes »De Profundis« und Ezra Pounds »Pisaner Cantos« sind im Gefängnis entstanden. Der Gefangene schreibt, um sich, wenn nicht physisch, so doch geistig aus seiner unmittelbaren Situation zu befreien. Indem er seine Gefangenschaft in die Literatur übersetzt, nimmt er ihr das Reale; gleichzeitig lässt er ein Maß an Wirklichkeit in die Literatur einströmen, das dieser sonst fremd ist.
Ausgehend von der Urszene des inhaftierten Dichters Schubart zeigt die Ausstellung im Kapitel Maskiert Tarnungen von Bertolt Brecht oder Erich Kästner. Geschmuggelt beschreibt Vorgänge, wie das in einem Schuhkarton versteckte Theaterstück des 18jährigen Wolfgang Borchert. Im Käfig, in der Bastille beginnt der Marquis de Sade mit winziger Schrift seine »120 Tage« aufzuschreiben. Manchmal ist Schreiben erlaubt »Wer kann von sich sagen, er sei nicht gefangen«, notiert Ernst Toller während seiner Festungshaft auf einen Zettel, ihm ist es erlaubt zu schreiben – unter Beobachtung. Danach: Dieses Kapitel zeigt einige der klassischen Zeugnisse des Schreibens gegen den Zwang der Einsperrung, die erst nachträglich, Wochen oder Jahre nach der Flucht oder der Freilassung des Gefangenen entstanden. Unsichtbar: Mit Lichtputze und Schere hat Johann Jakob Moser, ehem. juristischer Berater der württembergischen Landstände, geheime Aufzeichnungen ins Papier geritzt. Am Nullpunkt schildert die Abwesenheit des Adressaten: »Ich bin mir ja ein unbekanntes Land geworden in den Jahren der Absperrung, der Einsamkeit hier«, stellt Konrad Merz am 15. November 1944 fest. Durch die Luft und in den Staub erzählt von den aus dem Zug geworfenen und im Wüstensand vergrabenen Schriftstücken. Zuletzt bleibt Der ungeheure Raum: Schreiben in der äußeren Unfreiheit heißt auch, Dimensionen zu entwerfen, die über ein kleines Papier weit hinausreichen – und »mit dem Tode tritt man dann aus dem Koordinatensystem von Zeit + Raum heraus« (Helmuth James von Moltke, 8. Oktober 1944).
Den jüngsten Entwicklungen der letzten Jahre, die im Archiv noch keinen Niederschlag gefunden haben, widmet sich der Teil der Ausstellung, der in Verbindung mit dem PEN Deutschland und seinen Programmen Writers in Prison und Writers in Exile realisiert werden konnte. Gezeigt werden u. a. handschriftliche Kassiber von Liao Yiwu aus vierjähriger Haft in China, Alexander Solschenizyns Manuskript des Romans »Der erste Kreis der Hölle«, Václav Havels Brief an Olga vom 10. Juli 1982 aus dem Gefängnis von Pilsen-Bory und die von Doğan Akhanlıs im Frühjahr 2010 im Istanbuler Militärgefängnis verfasste Kurzgeschichte »Sibirien«, die er an seinen Anwalt faxte und die in Deutschland im Internet publiziert wurde.
Im 21. Jahrhundert gibt es immer noch Mittel, resistente Gegenmächte zum Verstummen zu bringen: Die Zeit des verborgenen Schreibens endet nicht an der Schwelle zur digitalen Welt.
Die Ausstellungseröffnung beginnt am 27. September um 19.30 Uhr im Humboldt-Saal des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Karten sind im Vorverkauf (www.reservix.de) erhältlich.
Die Pressekonferenz zur Ausstellung findet am 25. September, um 11 Uhr im Berthold-Leibinger-Auditorium (Literaturmuseum der Moderne) statt. Um Anmeldung wird gebeten: presse@dla-marbach.de.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog MK 65 | Kassiber. Verbotenes Schreiben. Herausgegeben von Heike Gfrereis. Mit Beiträgen von u. a. Jeremy Adler, Pamela und Wolf Biermann, Klaus von Dohnanyi, Tankred Dorst, Felix Ensslin, Fritz Rudolf Fries, Gerd Giesler, Hermann Kant, Ulrike von Moltke, Gerd Ruge, Volker Schlöndorff, Mansoureh Shoajeeh, Christof Wackernagel und Liao Yiwu. 2012. ca. 243 Seiten, zahlreiche farbige Abb. Broschiert. ISBN 978-3-937384-83-2, Euro 28,-
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