Wiedersehen mit Stadelmaier

Blätterteig VI: Les Adieux oder Monsieur Teste schaut zu
Von Gerhard Stadelmaier, 21. Dezember 2018
Einer geht ins Theater – und schaut nicht zu. Er wechselt die Blickrichtung, betrachtet nur den Zuschauerraum und die Gesichter der Leute dort. Abgesehen davon, dass er von einem anderen, der die ganze kuriose Geschichte erzählt, dabei beobachtet wird. »Viele Fächer bewegten sich, unabhängig, über der dunklen und hellen Menge, die bis zu den Leuchtern oben aufschäumte. Mein Blick buchstabierte tausend kleine Gesichter, fiel auf ein trauervolles Haupt, lief über Arme, über die Leute und zehrte sich schließlich auf.« Ein altes, ein prunkvolles Theater also, ein Opernhaus in Rot und Gold. Und nur an den »flammenden Gesichern«, am Absterben der »Helle, welche alle die Gesichter im Saal erzeugten«, erkennen der Beobachter und der Beobachter des Beobachters, dass »etwas Erhabenes sich abspielte«. Und die beiden, die womöglich ein und derselbe sind (Trick des Erzählers!), nehmen Abschied von der Aktion und spielen ihre »Les Adieux«-Komödie als dreisten Blickwechsel, feiern das Endspiel des Theaters nur noch in den Nuancen wahrgenommener Publikumsreaktion. Der’s zelebriert, heißt Monsieur Edmond Teste, den der intelligenteste aller französischen Schrifteller, Paul Valéry, der von 1871 bis 1945 lebte, um 1896 erfunden hat, eine essayistische Roman-Figur, die ganz aus Denken besteht. In Testes Kopf-Reich blätternd, geht einem auf, dass er gleich auch für kommende Zeiten mitgedacht hat. Man schaue in die leeren, überanstrengten Publikumsgesichter, und man sieht, was auf den Bühnen heute fehlt.
Dies ist die letzte Folge dieser Kolumne, alle Folgen des Jahres 2018 sind hier abrufbar: Wiedersehen mit Stadelmaier