Vanessa Greiff im Gespräch mit Jan Wagner

Ossip Mandelstam sagte einmal, die Grundtugend des Dichters sei das Staunen. Wie bewahren Sie sich das?
Ich weiß nicht, ob man sich das bewahren kann. Man muss versuchen, der Welt, mit all ihren Dingen, mit größtmöglicher Aufmerksamkeit zu begegnen. Wie wir die Welt sehen - das geht dem Dichten voraus. Im Grunde sollten wir ja auch über das, was wir jeden Tag sehen, staunen, über das längst allzu Vertraute. Dichter staunen über die Heidelbeere, den kleinen Grashalm auf der Erde. Um auf Mandelstam zurückzukommen: Der sagte an anderer Stelle, man müsse eigentlich immer reisen. Wer reist, staunt. Ich verstehe das so, dass man sich auch in den eigenen vier Wänden und in der gewohnten Umgebung als Reisender bewegen sollte.
Welche Bedeutung hat für Ihr Schreiben das eigene Reisen?
Man bekommt Motive geschenkt, die man vor der eigenen Haustür vielleicht dann doch nicht fände. Man kann zwar auch in Berlin ein Gedicht über Koalas schreiben, aber in Australien nimmt man sie anders wahr. Durch das Reisen erlangt man eine größere Aufmerksamkeit, wird von all den neuen Dingen überwältigt. Wenn ich reise, öffnet es mir jedenfalls die Augen und so auch das Notizbuch.

Sie kommen gerade aus Indien zurück. Welche Eindrücke haben Sie für Ihr Schreiben aus diesem Land mitgenommen?
Indien war so reich an Eindrücken, dass ich vermutlich noch Monate oder Jahre brauche, um die Eindrücke zu verarbeiten, mich zu sammeln. Ich war noch nie derart überwältigt von einer Reise - und staune im Moment vielleicht noch zu sehr, als dass ans Schreiben überhaupt zu denken wäre.
Das Gespräch wurde anlässlich der Lesung von Jan Wagner am 3. Februar 2016 im Deutschen Literaturachiv Marbach geführt.