Von Sigrid Löffler, 20. Januar 2017
Zweimal im Jahr winkt dem Literaturkritiker das Schlaraffenland. Jeweils im Mittwinter und im Frühsommer schleppen ihm die Postboten Pakete über Pakete ins Haus. Darin: die Neuerscheinungen des kommenden Frühjahrs oder des kommenden Herbstes. Ein Lektüre-Festschmaus sondergleichen kündigt sich an.
Verheißungsvoll lockt etwa in diesen Tagen der Bücher-Frühling 2017 mit seinem Überfluss. Die neuen Titel von Nobelpreisträgern wie Toni Morrison oder J. M. Coetzee warten fertig gebraten auf den Konsumenten. Lieblingsautoren wie Julian Barnes, Amos Oz oder Margaret Atwood versprechen frischgebackene Lektüre-Delikatessen. Als Sättigungsbeilagen servieren die Verlage die neue Elena Ferrante, den neuen T. C. Boyle und den neuen Karl Ove Knausgård.
Der majestätische Henry-James-Strom spült den nächsten Klassiker über unglückliche reiche Erbinnen aus Amerika und dekadentes alteuropäisches Adels-Gesocks ans Ufer des Schlaraffenlandes, und es versteht sich fast von selbst, dass das unentwegt plätschernde Martin-Walser-Bächlein wieder ein neues Büchlein vom Bodensee heranschwemmt.
Und dann ist da noch der verehrungswürdige Groß-Mythomane J. R. R. Tolkien! Der mag zwar seit fast fünfzig Jahren tot sein, doch das hindert ihn nicht, seine Geschichten von Mittelerde auch nach seinem Ableben unvermindert fortzusetzen. Demnächst erscheint posthum der 25. Band aus der Dunkelkammer seines Nachlasses (mit speziellem Dank an den Sohn Christopher Tolkien, den so findigen wie unermüdlichen Aufstöberer unverhoffter Manuskripte seines Vaters).
Von all dem könnte dem Literaturkritiker schon ganz schlaraffig zumute werden, wäre da nicht …
Wäre da nicht der letzte Satz in Ludwig Bechsteins Version des Märchens vom Schlaraffenland: «Um das ganze Land herum ist aber eine berghohe Mauer von Reisbrei. Wer hinein oder heraus will, muss sich da erst überzwerch durchfressen.»
Die Mauer von Reisbrei scheint in diesem Frühjahr höher, dicker und unbekömmlicher denn je, auch dank den Extra-Reisbrei-Lieferungen aus New York, von Paul Auster (1.300 Seiten) und Hanya Yanagihara (1.000 Seiten). Noch erschöpft von den riesigen Reisbrei-Portionen des Vorjahres soll sich der Kritiker nun den Magen verderben beim Überzwerch-Hindurchfressen durch all die neuen Tausendseiter, die ihm den Weg verstellen zu den appetitlichen literarischen Canapés und köstlichen Amuse-Gueules hinter der Reisbreimauer. Da hadert der Literaturkritiker mit sich selbst. Warum ist er nicht beizeiten Überflieger geworden?
Die nächste Kolumne in dieser Reihe erscheint am 3. Februar 2017.
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