Mein Jahr mit Stadelmaier

Die Frau mit dem Apfel
Von Gerhard Stadelmaier, 19. Februar 2016
Der Dichter sitzt im Theater. Er hat sich in eine Loge verzogen, wo es, wie er traulich schwärmt, »dunkel ist wie in einer Beichtnische.« Es ist morgens. Kurz vor der Probe eines Stücks, das der Dichter nicht kennt. Die Bühne ist offen. Und leer. Bis auf einen Bühnenarbeiter im braunen Overall linkerhand. Eine Schauspielerin in Hut und Mantel, die gerade einen Apfel isst, geht über die leere Fläche, wünscht dem Arbeiter einen guten Morgen. Dann ist sie verschwunden. Eine völlig alltägliche, untheatralische Begebenheit. Die an jeder Straßenecke, in jedem Büro, auf jedem Platz draußen sich tausendfach ereignen könnte, ohne dass man etwas darin sähe. Und die dort draußen niemand für eine Szene, also für etwas halten würde, das aus dem Rahmen fallen würde: Wovon man also Wunderdinge erzählen könnte. Max Frisch hat sie in seinem »Tagebuch« notiert. Aber nicht nur der Dichter in seiner Nische, jeder, der mit ihm auf die leere Bühne schaut, sieht hier sofort: ein Drama. Das draußen sich nie ereignen könnte. Denn der Rahmen des Kastens, in den man nie ungestraft, also auch nie unbeglückt hineinguckt, hat die Dame, die gar nichts tut und will, sofort verwandelt - und das heißt ja aus dem Rahmen fallen lassen. Und ihren Apfel auch. Verwandelt in Eva. In Schlange. In Schneewittchen. In was auch immer Auge, Hirn und Herz sich die Apfelbeißerin verwandelt und verwunschen wünschen dürfen. Deshalb ist der Guckkasten ein Glückskasten. Für Zuschauer. Das Theater, das es weiß, ist klug.
Die nächste Kolumne in dieser Reihe erscheint am 4. März 2016.