Mein Jahr mit Stadelmaier

Die Wiederkehr des Zeigefingers
Von Gerhard Stadelmaier, 28. Oktober 2016
Irgendwann war es sehr still um ihn geworden, auch hatte man länger nichts von ihm gehört. Jetzt plötzlich ist er wieder da. Und sticht. Und fliegt dabei übern Tisch. Und trifft. Der Zeigefinger wird wieder zur Waffe. Die trennt: in Gut und Böse. Immer dann, wenn Worte fallen, die keine Fassung haben. Über die sich nicht im Für und Wider, im Womöglich oder Vielleicht oder Man-wird-Sehen reden lässt. Sondern die verlangen, dass man sich ins fassungslos Eindeutige einreiht. Entweder in die eine Reihe oder in die andere. Der Zeigefinger hat hier auch die Funktion einer Einreihungspeitsche. Fällt zur Zeit zum Beispiel bei einem Diner oder auch nur bei einer Cocktail-Runde oder einem Familien- oder Freundeskreiskaffee das Wort »Flüchtlinge«, dann werden Gläser und Messer und Gabeln und Löffeln weggelegt und der Zeigefinger ausgefahren: Bekenne dich – zu mir oder gegen mich! Ich bin gegen die wahllose Aufnahme von Flüchtlingen (der eine Zeigefinger)! Ich bin dafür (der andere)! Man sieht sich sofort, schmerzhaft manchmal zwar, aber todsicher zum Schwur auf einen jeweiligen zustechenden, unbedingt zutreffen wollenden Zeigefinger-Katechismus genötigt. Das Gespräch, freundlich kritisch, urban, human, abwägend, zugebend, wie auch immer, verstummt. Es wird laut. Die Tirade erhebt ihr brüllend Stichelhaupt. Es gibt kluge Zeitgenossen, die, wenn sie das Wort »Flüchtling« hören, sofort den Raum verlassen und in der Küche von ihrem Zeigefinger herunter lieber das Dessert schleckend naschen.
Die nächste Kolumne in dieser Reihe erscheint am 11. November 2016.