Mein Jahr mit Stadelmaier
Drei Schwestern
Von Gerhard Stadelmaier, 18. März 2016
Einmal standen sie am Abgrund. Und seufzten: »Wenn man es nur wüsste...« Sie meinten damit das Leben und wie es weitergehen solle. Der einen hatte man den Verlobten im Krieg erschossen. Sie hatte ihn nicht sonderlich geliebt, aber wäre mit ihm zurechtgekommen. Der anderen war ungefähr zur gleichen Zeit der Geliebte abhanden gekommen, mit dem sie ihren Mann, einen unsäglichen Langweiler (Schuldirektor) wundervoll würde betrogen haben. Bevor es dazu kam, zog man ihn, einen Offizier, zusammen mit seiner Einheit ab. Er blieb dann ganz weg. Der Dritten schlugen die vielen Schulhefte, die sie korrigieren musste, und die aussichtslose Liebe zum Mann ihrer Schwester (dem langweiligen Schuldirektor) derart aufs Gemüt, dass sie eine geschlossene Anstalt aufsuchen musste. Das ist lange her. Heute sind die drei Schwestern über achtzig. Und strampeln im Glück. Denn ihre Welt besteht lange schon aus nichts als einem Fitness-Studio. Morgens betreten sie es, entern die Laufbänder, die Latzüge und die Crosstrainer. Abends verlassen sie es, nachdem sie lange in der 100-Grad-Sauna und an der Saftbar zugebracht hatten. Sie sehnen sich nicht mehr nach unerreichbaren Männern. Sie schimpfen auf alle Männer. Zwischen zwei Kraft-Ausdauer-Zirkeln. Jeglicher Abgrund kann ihnen gestohlen bleiben. »Du willst wissen, was das Leben ist«, schrieb einst Anton Tschechow, Verfasser großer trauriger Komödien, an seine Frau, und gab die Antwort: »Das Leben ist eine Mohrrübe.« Die drei Schwestern wissen es besser.
Die nächste Kolumne in dieser Reihe erscheint am 1. April 2016.