Mein Jahr mit Stadelmaier

Ein Lesehändler
Von Gerhard Stadelmaier, 13. Mai 2016
Der Laden, den er von seinem Vater übernommen hatte, lag im Erdgeschoss eines alten Patrizierhauses. Es türmten sich da in abenteuerlichen Stapeln abertausende von Büchern. Eine Schatzhöhle, in der man sich als Kind nicht nach den Schätzen zu greifen getraut hatte, weil zu fürchten war, dass das eine Lawine ausgelöst hätte. Dann zog der Laden in ein moderneres Gebäude. Dort gab es noch mehr Bücher. Nur schöner präsentiert. Das Wichtigste aber war eine schmale, mit einem Lederpolster bezogene Bank. Damit erwies sich der Buchhändler als Lesehändler. Denn man durfte, da man kein Kind mehr war und zwischen Hausaufgaben und Klavierstunde ein gewisses häusliches Überflüssigsein verspürte, auf dieser Bank ganze regendurchweichte Provinznachmittage stundenlang mit Rein- und Quer- und manchmal auch mit Ganzauslesen verbringen. Der Chef vertrieb einen nicht. Im Gegenteil. Er gab Empfehlungen, zog aus den oberen Regalen die neueste, klug kommentierte Taschenbuchausgabe von Shakespeares Komödien und überließ sie den gierigen Augen des Müßigsitzers, dessen Taschengeld für den Erwerb des Bändchens nicht gereicht hätte – dem aber das Durchträumen von Illyrien geschenkt wurde: »Was ihr wollt« als Glücksgabe auf Zeit (und von da an für immer in Kopf und Herz). Später ging die Buchhandlung zugrunde. Jetzt kommt die Nachricht, dass der alte Buchhändler, der ein Lesehändler war, gestorben sei. Gott und Gutenberg mögen seiner Seele Gutes tun, im Himmel oder in Elysium. Gerne auch in Illyrien.
Die nächste Kolumne in dieser Reihe erscheint am 27. Mai 2016.