Mein Jahr mit Stadelmaier

Entsinnen Sie sich!
Von Gerhard Stadelmaier, 8. Januar 2016
Über ein altes Wort gestolpert. Wie in einem zündfunkenzischenden Schubs. Und da lag es nun und funkelte wie neu, aber verloren. Denn das Wörtlein »entsinnen« ist seit langem in Zeitgeistschlünden verschwunden. Und hat dabei wohl ein bisschen den Genetiv mit hinabgerissen. Niemand »entsinnt« sich mehr dieses oder jenes Vorfalls oder dieser oder jener Geschichte. Alle »erinnern« sich nur noch. Erinnerung ist das gängige gesellschaftliche Wechselgeld, das »gegen das Vergessen« ausgegeben wird. Erinnerung benötigt Gedenktage, Jubiläen, Jahrestage. So wird zum Beispiel an Kriege erinnert – die, wenn man sich genug an sie erinnert hat, wieder aus der Erinnerung verdrängt werden. Denn die nächste Erinnerungspflicht wartet schon und möchte ihre rituelle Erledigung haben. Deshalb auch gibt es jede Menge Erinnerungsartikel, doch keine Entsinnungsartikel in den Zeitungen. Erinnerung liegt außerhalb des Menschen, der da aufgefordert wird, sich bitte zu erinnern. Sie hat den Zug ins Objektive. Eine verordnete Vorstellung. Wer aber sich entsinnt, der nimmt, woran er denkt, auf seine Sinne, ganz auf sich und seine Person. Es hat den Zug ins Subjektive. Eine eigene Vorstellung. Erinnerung ist teilbar. Ein Entsinnen ist unteilbar. Wer sich nicht mit dem Darm, dem Magen, dem Hintern, dem Geschlecht erinnere, der erinnere sich an gar nichts, hat der witzig-weise Regisseur und Dramatiker George Tabori einmal geklagt. Ihm fehlte das rechte Wort. Er hätte auf »entsinnen« kommen können.
Die nächste Kolumne in dieser Reihe erscheint am 22. Januar 2016.