Mein Jahr mit Stadelmaier

Hamlet klein, Scheidungskind
Von Gerhard Stadelmaier, 22. Januar 2016
Der kleine Junge trägt ein schwarzes Cape, das seine dürren Schultern umflattert. Er schaut darin aus wie ein verschrecktes Fledermausküken, das sich gerne ins Sichere flüchten würde. Was nicht geht, denn er muss sich entscheiden. Zwischen Mama und Papa. Das ist sein ganzes Drama. Mama parkt auf der linken Straßenseite (BMW X3), Papa auf der rechten (Porsche Cayenne). Beide halten die hintere Tür einladend offen. Beide haben schon länger nichts mehr miteinander zu tun. Nur die kleine Fledermaus bringt sie noch hie und da zusammen. Sie flattert zu Papa, umarmt ihn, bekommt was ins Ohr geflüstert. Dann stürzt sie zu Mama, umarmt sie, bekommt was ins Ohr geflüstert. Er wird angelockt, man bietet ihm Kino, Zirkus, Internet, Playstation, Computerspiele, Fernurlaub, Elektroauto. Bei jedem Flug der kleinen Fledermaus von der einen zur anderen Straßenseite werden die Angebote gesteigert. Das Kind, wenn es bei Papa ankommt, keucht: »Ich gehe mit dir«, wenn es zu Mama zurückhastet, verspricht es: »Ich bleibe bei dir«. Aber jedes »Ich gehe« auf der einen dreht ihm sofort Kopf und Herz um zum »Ich bleibe« auf der anderen Straßenseite. Und umgekehrt. Inzwischen ist das spitze Gesichtchen der kleinen Fledermaus in Tränen gebadet. Irgendwann wird es Mama zu dumm. Sie muss zu ihrem Yoga-Kurs. Papa hat noch einen Termin mit seiner Sekretärin. Also wird es ihm auch zu dumm. Beide fahren davon. Der kleine Kerl denkt nur noch: Ich möchte am liebsten nicht sein. Der Rest ist Schweigen.
Die nächste Kolumne in dieser Reihe erscheint am 5. Februar 2016.