Mein Jahr mit Stadelmaier
Leonce und Lena fahren Zug
Von Gerhard Stadelmaier, 24. Juni 2016
Gleich wird der ICE den Hauptbahnhof erreichen, nach endlos scheinender Verspätung. Müde, halb noch im Stehen dösende Fahrgäste haben eine nervende Fahrt in überfüllten Käfigen hinter sich, die sich »Wagen zweiter Klasse« nennen. Man möchte nichts als endlich aussteigen, drängt sich in den Gängen, dünstet Körper an Körper so vor sich hin. Die Stimmung ist resigniert bis gereizt. Wer etwas zu sagen hat, stöhnt es allenfalls halblaut. Plötzlich ein schriller Ton: »Fick dich, Leonce!« Darauf noch schriller: »Fick dich selber, Lena!« Das Gemurmel ringsum erstirbt. Köpfe drehen sich zu den beiden. Man sieht zwei ungeheuer unförmige, rosig aufgeschwemmte, in Sachen Männlein oder Weiblein eigentlich ununterscheidbare Gedunsene. Lena klärt die Albtraumlage: »Du hast mir an den Busen gegrapscht. Das ist sexuelle Belästigung. Ich hab hier Zeugen!« Abgesehen, dass die Zeugen kaum ausmachen könnten, was unter Lenas gewaltigen Wülsten auch noch der Busen sein sollte, kontert Leonce mit einem einzigen Wort: »Rechtsanwalt!« Dem werde er die Sache übergeben. Worauf ihn Lena mit Wörtern eindeckt, die direkt aus der Sphäre hinter der Toilettentür, in deren Nähe sich die beiden beharken, herzuschwallen scheinen. Ein deutscher Dialog unter Wohlstandsprinz und Wohlstandsprinzessin, die sich im Königreich Pipi und Popo auch so sauwohl fühlen, weil sie es juristisch zu durchdringen vermögen. Büchners Königskinder – in die Bahn geworfen! Aber mit Rechtsschutzversicherung.
Die nächste Kolumne in dieser Reihe erscheint am 8. Juli 2016.