Mein Jahr mit Stadelmaier

Radiojahre
Von Gerhard Stadelmaier, 29. April 2016
Beim Querlesen entdeckt: »Hätt’ ich die Spielsachen meiner Kinderjahre!« Einer der abgrundschönen Wehmutsseufzer Jean Pauls. Denn Spielsachen haben Ausgrabungskraft. Zum Beispiel mein Lieblingskinderspielzeug. Ein Holzkasten, innen rundum mit einem weißen Bakelit-Rahmen. In der oberen Hälfte, die ganz mit schönem beigem Stoff bespannt ist, prangt ein Schildchen: »Grundig 2088«. Darunter eine breite gläserne Scheibe mit je einem Drehknopf rechts und links. Auf der Scheibe in kleiner, leuchtender Schrift: die ganze weite, rätselhafte Welt. »Schweizer Rundspruch«, »Oslo«, »Droitw.«, »Motala«, »Kalundborg«, »Beromünster«, »Hilversum«, »Berlin-Ost«, »Brasov«. Überm rechten Drehknopf, mit dem man durch diese ganze Welt auf »LW« wandern konnte, ein grünes magisches Auge. Es durchdrang die fünfziger Jahre. 1953, als die Großmutter am »Grundig 2088« über dem Arbeiteraufstand in Ost-Berlin in Entsetzensschreie ausbrach, die sich 1956, als in Prag, Budapest und Warschau Panzer über Menschen hinwegrollten, sich ins Schreckensjähe steigernd, wiederholten – aber in Entzückungs- und Erstaunenslaute verwandelt wurden, wenn sonntagnachmittags Hörspiele von Eich oder Böll oder Frisch durch die Stoffbespannung drangen, Nachrichten über das Neueste von Beckett oder Brecht oder Ionesco die Ohren weiteten. Später hieß es, diese Jahre seien »die muffige Adenauerzeit unterm Mehltau der Restauration« gewesen. Das alte Spielzeug weiß es besser: Aufregender ging es später nie mehr zu.
Die nächste Kolumne in dieser Reihe erscheint am 13. Mai 2016.