Mein Jahr mit Stadelmaier

Schöne Menschen
Von Gerhard Stadelmaier, 30. September 2016
Man stelle sich vor: einen Klavierabend. Anspruchvollstes Programm (letzte Beethoven-Sonaten). Eine Person betritt die Bühne, auf der sonst nur noch der Flügel samt Klavierhocker zu sehen ist. Die Person sehr klein, alt, verwachsen, bucklig, offenkundig an einer schweren Skoliose leidend, hinkend, in einem schlichten, grauen Kleid, die Haare in einem kaum zu bändigenden Dutt wirr gefasst, das Gesicht zerfurcht, aschfahl, die Unterlippe schlaff hängend. Gemurmel in den Reihen: »Was hat die Putzfrau hier zu suchen? Wo bleibt die Künstlerin?« Dann aber setzte sich Clara Haskil ans Klavier und zauberte Himmlisches, Innigstes. Das war in den fünfziger Jahren. Sie durfte damals noch. Heute würde sie die Musikästhetenpolizei gar nicht erst in den Saal beziehungsweise einen Wettbewerb gewinnen noch beziehungsweiser einen Plattenvertrag unterzeichnen lassen. Selbst Provinzpianistinnen und Regionalgeigerinnen, von sogenannten Weltklassesängerinnen ganz zu schweigen, haben in tadelloser Mannequinfigur, schulterfreiem Abendkleid und make-up-strahlender Sexiness ihre Sechzehntel zu bewältigen. Als dürfe, wer schöne Musik machen wolle, auch nur ein schöner Mensch sein. Als schlösse ein Klumpfuß oder ein Zweizentnerleib die geniale Phrasierung eines schlanken Allegros aus. Eine gnadenlose Selektion, die einem quellennotorisch kleinen Unansehlichkeitsmännchen wie Mozart keine Auftrittschance ließe. Jede kleine, schöne Pianistin schlüge ihn leichterhand aus dem Feld.
Die nächste Kolumne in dieser Reihe erscheint am 14. Oktober 2016.