Mein Jahr mit Stadelmaier

Tragödienbetrug
Von Gerhard Stadelmaier, 15. April 2016
Darf ein Luftwaffenpilot ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug abschießen, wenn er damit verhindert, dass es in ein mit 70 000 Zuschauern gefülltes Fußballstadion gelenkt wird? Darf man Unschuldige töten, um andere Unschuldige retten? Das sind Tragödienfragen. Sie gehören in ein Drama. »In einem Drama haben immer zwei Leute recht, sonst wäre es keines«, sagt der kluge Rudolf zur noch klügeren Marie Steuber in dem Drama »Die Zeit und das Zimmer« von Botho Strauß, das seit der fulminanten Uraufführung 1989 an der Berliner Schaubühne (Regie: Luc Bondy) leider kaum mehr gespielt wird. Viel gespielt – an über zwanzig Bühnen in dieser Saison - wird dagegen »Terror« des gelernten Juristen Ferdinand von Schirach. »Terror« hat die Form einer Gerichtsverhandlung mit Angeklagtem (dem Luftwaffenpiloten), Staatsanwalt und Verteidiger. Es geht um den Flugzeugabschuss, den der Pilot sich aufs Gewissen lud. Am Ende dürfen die Theaterzuschauer den Richter spielen, der dem Drama fehlt: Gemeinhin plädiert eine Publikumsmehrheit von um die 60 Prozent auf Freispruch für den Piloten. Das Theater delegiert die Tragödie, die es aus- und durchzuspielen hätte bis zum unlösbaren Punkt, wo »zwei Leute recht haben«, an Leute, die gerade dadurch, dass sie über sie abstimmen, um die Tragödie betrogen werden. Man stelle sich vor: Eine Publikumsabstimmung darüber, ob Odoardo Galotti das Messer, mit dem er seine Tochter Emilia verzweifelt absticht, lieber zum Rosenschneiden hätte verwenden sollen.
Die nächste Kolumne in dieser Reihe erscheint am 29. April 2016.