Mein Jahr mit Stadelmaier
Unter Wilden
Von Gerhard Stadelmaier, 8. Juli 2016
Dort, wo früher ein Bäcker, ein Metzger, womöglich gar ein Wirtshaus standen, hält heute in den kleinen Dörfern und Städten das Tattoo-Studio die Stellung einer Dienstleistung, die vom Discounter auf der Industriegebietsbetonwiese hinterm Nachbardorf (noch) nicht erbracht wird. Manchmal bieten die kleinsten Kaffs sogar zwei konkurrierende Schuppen, die sich der Kolorierung der Epidermis verschrieben haben. Die farbige Hautbenadelung scheint längst eine allgemeine. Man trägt das als unabwaschbaren Ehrenschmuck. Die Aussicht, dass die Haut altern und schrumpeln und das dort eingebrannte Bild mitschrumpeln könnte, stört offenbar kaum einen. Viele Körper vieler republikanischer Landesbewohner werden zu wandelnden Galerien, man sieht sie Drachen, Vögel, Blumen, Totenköpfe oder auch nur geometrische Muster spazieren tragen. Auf den Fußballfeldern gehört das schon längst zum guten Hautton. Die Blutgrätsche des rechten Verteidigers wird zur beinmalerischen Waffe in Blau und Rot und Violett. Passend zu den seitwärts hoch- bis ganz kurzhaarrasierten Schädeln prägt der Wilde als Wiederkehrer das Weichbild der Städte. Als ob sie alle Irokesen wären. Und als ob sie alle wie in einem Akt kollektiven Bekennerwahns den späten reuevollen Bild-Ersatz für die Kolonisierung und Ausrottung der wilden, fernen, fremden Völker leisteten, die ihre Vorfahren auf dem Gewissen hatten. Und so, als bemaltes Ungeheuer, zeigt man ja auch sehr schön, dass man sich selbst noch längst nicht geheuer ist.
Die nächste Kolumne in dieser Reihe erscheint am 22. Juli 2016.