Mein Jahr mit Stadelmaier
Wer bin ich?
Von Gerhard Stadelmaier, 14. Oktober 2016
Wer in die Prospekte von Verlagen, zur Frühlings- wie zur Herbsteszeit, schaut, findet als Ankündigung vor allem: Suchanzeigen. Junge Autoren, allesamt so um die dreißig, suchen entweder die Liebe oder den Opa. Wobei der Opa, wahlweise auch die Oma, überwiegt. Es herrscht in unsicherer Zeit offenbar eine ungeheuer große Sehnsucht nach dem Woher? des eigenen Seins. Verbunden mit Enthüllungen. Entschleierung der Vorfahren. Düstere, unappetitliche Geheimnisse. Je mehr aber in der jüngeren Gegenwartsliteratur nach älteren Familienstammbäumen gesucht wird, auf denen man ins schaurig Dunkle hinabklettern kann, desto fragwürdiger wird der helle, lichte Baumbewuchs gerade in der Realität. Wenn das fremdestsamengespendete, von einer indischen Leihmutter ausgetragene, von einem deutschen homo- oder auch heterosexuellen Paar adoptierte Kind, das nach der Trennung seiner Eltern bei der Halbschwester des einen Partners aufwächst, die selber schon zwei Kinder aus zwei Ehen hat und gerade ein drittes von einem freibleibenden Männerangebot erwartet, Frucht und Folge naturgemäß kompliziertester Scheidungsverhältnisse (wobei schon der Vater der Halbgeschwister nicht genau wusste, von wem seine Kinder waren) – wonach wird dieses Kind suchen können, wenn es dreißig wird? Und auf trittsicheren Stammbaumästen aufstrebend einen Familienroman schreiben möchte? Oder erledigen pränatale Technik und patchworkaholische Verhältnisse irgendwann eine ganze Gattung? Und jedwede Vergangenheit gleich mit?
Die nächste Kolumne in dieser Reihe erscheint am 28. Oktober 2016.