Wiedersehen mit Stadelmaier

Abi 68
Von Gerhard Stadelmaier, 15. Juni 2018
Jetzt fahren sie wieder ihren Abitursjahrgang spazieren. »Abi 18« prangt in Autonummernschildform hinter manchem reifezeugnisbeglückten KFZ-Heckfenster. Man versucht da wohl, sich außer einer albernen Es-ist-erreicht!-Geste ein irgendwie Epochales, Einschneidendes zu signalisieren. Als lägen zwischen »Abi 18« und »Abi 16« ganze Welten. Würde man nicht wollen, dass sie dazwischenliegen, reichte ja auch nur ein einfaches »Abi« hinterm Autofenster fürs eitle Seht-alle-mal-her!-Gefühl an der roten Ampel. Letzthin Klassentreffen gehabt. Fünfzig Jahre Abitur: Abi 68. Wahrlich ein Epochenjahr, wie man uns immer wieder versichert. Als sei danach alles anders als vorher gewesen. Martin Luther King ermordert; auf Rudi Dutschke wurde geschossen (»Springer hat mitgeschossen!«); Straßenschlachten samt Wasserwerfereinsatz in Berlin; Barrikadenradau in Paris samt Besetzung des Odéon-Theaters durch Studenten, die sich »revolutionär« nannten. Völkermord in Biafra. Einmarsch der Ostblock-Armeen in der Tschechoslowakei. Und wir Epochen-Maturanten? Grämten uns, dass wir den Ablativus absolutus falsch übersetzten, gähnten über sogenannten »Dialektischen Besinnungsaufsätzen«, versuchten das Pfeiferauchen ohne zuviel Zutzelspucke zu lernen, waren unglücklich verliebt, betranken uns im Wirtshaus »Zum Hasen« (die Halbe zu 50 Pfennig), fanden unsere Lehrer zum Piepen, kamen aber ganz gut durch (Durchschnittsnote 2,5). Und wussten gar nicht, dass wir Achtundsechziger waren. Unsere Epoche kam offenbar erst später.