Wiedersehen mit Stadelmaier

Blätterteig II: Camino Royal
Von Gerhard Stadelmaier, 19. Oktober 2018
Georg Hensel, »Spielplan. Der Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart«, Band I, Seite 695, zufällig beim Blättern in diesem lesenswertesten Theaterbuch aller Zeiten aufgegangen: Man liest von einer Stadt ohne Menschlichkeit, die lebend keiner verlassen kann; den Bewohnern bleibt nur der Fluchtweg in die Erinnerung, wenn sie nicht von Staatsangestellten erschossen werden, dieweil Straßenkehrer die Leichen abtransportieren; das Aussprechen des Wortes »Bruder« gilt als Aufruhr, der Austausch ernster Gedanken führt zur Todesstrafe; Gestalten aus alten europäischen Büchern, zum Beispiel Baron de Charlus aus Prousts »Recherche«-Roman, der im Karren der tödlichen Straßenfeger endet, Casanova, Don Quijote, die Kameliendame, Lord Byron geben sich ein Stelldichein, wozu ein amerikanischer Träumer tritt, der Boxchampion Kilroy. Er wagt das verbotene Wort und nennt Casanova »Bruder«. Aus seinem Leichnam wird das goldene Herz geschnitten, und er verpfändet es betend für die Hure Esmeralda: »Lasst etwas sein, das das Wort Ehre wieder bedeutet.« Byron und Don Quijote brechen auf ins Niemandsland (mit Kilroys Geist im Gepäck), hoffend, dass »Veilchen die Kraft haben, Felsen zu durchbrechen.« Das Drama aus dem Jahr 1954 heißt »Camino Royal« und stammt von Tennessee Williams. Undenkbar, dass es noch jemand spielt. Denkbar aber, dass man darauf kommen könnte, dass es noch etwas anderes gäbe als den leichthin gemüllten Realitätenhaufen auf den Theatern. Traumspiele wiegen schwerer.