Wiedersehen mit Stadelmaier
Blätterteig III: Der arme Bitos
Von Gerhard Stadelmaier, 2. November 2018
In alten Programmheften blätternd, erinnere ich mich voll jungenhaftem Vergnügen an jenen Theaterabend im Februar 1966 im Stuttgarter Kleinen Haus. Der Schauspieler Günther Lüders, melancholischer Komiker mit sonorem Schmirgelpapier-Charme in der Stimme, gab den Bitos, einen Staatsanwalt in der Maske des Robespierre, Teilnehmer eines provinzfranzösischen Nachkriegsdiners, in dem alle Mitesser verkleidet als Protagonisten der Französischen Revolution zu erscheinen haben. Der Träger der Maske des Saint-Just, gespielt vom jungen Heinz Baumann, bespuckte den Robespierre, der entgegnete: »Man kann Revolutionär sein und dennoch höflich bleiben«. Was mich gegen alle wenig später aufrotzenden 68er-Ungezogenheiten abhärtete. Beide: Figuren in Jean Anouihls Komödie »Der arme Bitos oder Das Diner der Köpfe«. Sie ist wie alles von Anouilh von den Bühnen verschwunden. Der Staatsanwalt: Tugendterrorist, der die Unkorrekten, die Schuldigen, Nazi-Kollaborateure erbarmungslos verfolgt und über Leichen geht. Seine Diner-Feinde: einstige Mitkämpfer in der Résistance, eine korrupte, hämische Bande, die ihren Frieden mit allen politischen Schweinerein längst gemacht hat. Man schießt im Spaß auf ihn, erniedrigt ihn, sperrt ihn in eine imaginäre Todeszelle. Zwei Unmenschlichkeiten im Clinch: die der absoluten Gerechtigkeit und die der absoluten Selbstgerechtigkeit. Anouilh richtet nicht. Er hält nur den Trost der Untröstlichkeit bereit, also der absoluten Komik. Passt doch heute wieder! Oder?