Wiedersehen mit Stadelmaier

Blätterteig IV: Literaturkritik als Lärmtaktik
Von Gerhard Stadelmaier, 16. November 2018
»Bleibt einem guten Buch der Erfolg versagt, so ist es das Klügste, daß man erklärt, es habe Erfolg; daß man von ihm spricht wie von einem berühmten Buche, das ganz Italien kennt usw. Diese Dinge werden dadurch wahr, daß man sie feststellt. Versichern und wiederholen es viele, so machen sie es tatsächlich wahr.« (Anm.: »Italien« lässt sich hier problemlos ersetzen durch »Deutschland«, »England«, »Frankreich«, »Russland«, was auch immer, etc.) Das schrieb Giacomo Leopardi, ein dreißigjähriger Gedankenmacher, am 10. August 1828, »Tag des heiligen Laurentius«, in Florenz in sein »Gedankenbuch« (Zibaldone di pensieri). Er galt vielen als bedeutendster Lyriker Italiens seit Petrarca, war ein Zeitgenosse Manzonis und in seiner wider alle Stachel lökenden Denker Ungeniertheit und Urteilsfreiheit auch ein Vorläufer Nietzsches. Auf jeden Fall der Lesenswertesten einer im weiten Reich der Weltliteratur. Ein Moderner avant la lettre. Also auch ein Einsamer, der dem Lärm der Viel-Herde lauscht. Wer als Literaturkritiker auf die erbarmungswürdige Floskel verfiele, dieses oder jenes Buch oder dieser oder jener Autor »hätte mehr Leser verdient«, als ob Menge (»mehr«) schon ein Kriterium für Verdienst (»hätte«) wäre, der könnte bei Leopardi lernen, dass das Verdienst oft eine Funktion des Lärmens ist. Dabei hat längst das Lärmen für Literatur, ganz heiß, ganz aktuell, das verdienstvolle Lesen ersetzt. Nur dass viele Literaturkritiker das noch nicht gemerkt haben.