Wiedersehen mit Stadelmaier
Blätterteig V: Krüppelkapital
Von Gerhard Stadelmaier, 7. Dezember 2018
Das Drama ist 1920 erschienen. Aber es zerrt auch spätere Zeiten in den Groteskbrennspiegel einer Schauerposse. Sie schrieb Ramón del Valle-Inclán (1866-1936), ein theatralisches Absurditätsgenie. Leider kaum noch gespielt. Riesengroß ausgestellt wird in den »Divinas palabras« (Worte Gottes oder Wunderworte) – ein Krüppel. Ein monströser Zwerg. Mit gewaltigem, locker auf fettem Schrumpelkörper sitzendem, baumelndem Wasserkopf. Seine Mutter, deren »wachsbleiche Beine eines morgens unter ihrem Rock hervorstarren wie zwei Altarkerzen« (weil sie tot ist), hat ihn auf einem Karren durch die galicische Provinz gezogen – und viel Geld mit ihm verdient. Denn Krüppel bringen Mitleid, und Mitleid bringt Kapital. Nach dem Tod von Juana la Reina, der Krüppelbesitzerin, wollen alle Karren und Zwerg. Es teilen sich ihn aber zwei Tanten, jeweils abwechselnd drei Tage. Bis der Krüppel an den Übermengen von Schnaps stirbt, den die gaffend spendenfreudige Meute ihm einflößt. Die eine Tante wird mit ihrem Liebhaber im Schilf erwischt, gejagt und gehetzt, ihrem Mann ans Messer geliefert, dem sie dadurch entkommt, dass sie nackt auf dem Kirchendach tanzt. Und der Betrogene spricht die Wunderworte: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. In unseren unfrommen Zeiten der großen Inklusion wäre es nicht schlecht, wenn das Theater mal wieder auf die grotesk menschenfreundliche Vorteile sowohl von Behinderung wie auch von Bibelfestigkeit hinwiese – natürlich unter gewaltigem Gelächter.