Wiedersehen mit Stadelmaier

Der Stellvertreter
Von Gerhard Stadelmaier, 4. Mai 2018
An einer Fußgängerunterführung, gekachelt, versifft, vergraffitiert, liegt ein Hut. Daneben ein kleiner Rucksack und ein Schildchen des Inhalts, dass, werfe man Geld in den Hut, ein »Wandersmann« sich darüber freue. Er selbst ist nicht anwesend. Nicht nur dadurch unterscheidet er sich von den Kollegen, die mehr oder weniger aggressiv ein Mitleid einfordernd oder eine Erbarmungswürdigkeit inszenierend an Kirchen- oder Theatertüren, in Fußgängerzonen und vor Kaufhauspassagen auf ihren gekritzelten Schildchen – wenn sie denn überhaupt noch diese altmodische Werbemethode benutzen - grausame Schicksale verzeichnen: »Arbeitslos, wohnungslos, hungrig« und dergleichen. Manchmal haben sie einen Hund neben sich kauern. So werfen sie ihre ganze Person in den Kampf ums Dasein. Unser Mann aber setzt sich nicht den gleichgültigen bis g’wissenswurmzernagten Blicken der Vorüberhastenden aus. Er demonstriert ihnen sein sozialfürsorglichstes Asozialen-Selbstbewusstsein: durch seinen Stellvertreter, den Hut. Und eine kluge Schicksalslosigkeit. Denn ein Wandersmann muss niemanden jucken, keiner sich bei einer Mitleidsabwehrregung ertappen lassen. Und das Stammtisch-Ondit, dass viele dieser Bettler à la »Dreigroschenoper« straff organisiert seien und abends der rumänische Peachum hinterm Kaufhof im Mercedes warte und die Tageseinnahmen abkassiere, läuft beim Wandersmann ins Leere. Schon nach wenigen Minuten ist der Hut gut gefüllt. Nach einer Stunde ist er weg. Der Wandersmann hat Wort gehalten.