Wiedersehen mit Stadelmaier

Kinderkinder
Von Gerhard Stadelmaier, 7. September 2018
Der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère berichtet, »und Sie sehen mich in Tränen«, im Gespräch mit seiner deutschen Übersetzerin Claudia Hamm, vom großen Kollegen André Malraux (der einst de Gaulles Kulturpapst war), wie er einmal einen weithin berühmten alten Abbé getroffen habe, einen gesuchten Beichtvater. Malraux fragt den Geistlichen: »Was haben Sie im Beichtstuhl über die Menschen gelernt?« Und der Pfarrer antwortet nach kurzem Zögern, er habe zweierlei gelernt: »Dass die Leute viel unglücklicher sind, als man glaubt. Und dass es keine Erwachsenen gibt.« Carrères Tränen rühren wohl vom zweiten Lehrsatz des Priesters her. Er weint sie im Nachwort seines gerade erst auf deutsch erschienen Buches »Der Widersacher«, das schon 1999 in Frankreich herauskam und Furore machte: die reportierende Erzählung beziehungsweise schriftstellerische Begleitung eines Mörders, der seine Frau und seine beiden Kinder, seine Eltern und deren Hund umbrachte. Dass es keine Erwachsenen gebe, dass wir alle immer und zu aller Zeit noch Kinder sind und eben auch immer Kinder von Kindern von Kindern . . . und so fort und weiter hinab in alle tiefen Brunnen der Vergangenheit; dass alle Literatur eigentlich Kinderliteratur ist, angefangen bei Ödipus, von den Göttersagen aller Kulturkreise ganz zu schweigen; dass keiner lebenslang dem entkommt, was er früh erfährt; dass das Leben im Grunde eine Infantentragödie ist; dass Sterbende gerne nach ihrer Mutter rufen – das ist schon der Tränen wert.