Wiedersehen mit Stadelmaier

Kussschluss
Von Gerhard Stadelmaier, 6. April 2018
Wenn im deutschen Fernsehen ein Mann und eine Frau sich küssen, tagsüber oder vorabendlich oder posttagesschaulich – dann verstummt die Szene. Die Kamera geht nahe ran. Lippen schweigen. Saugschleckmahlen aber fleißig. Danach Schnitt zum Kuss-Ergebnis (für die Linguisten unter meinen Glossen-Lesern: zum illokutionären Effekt des Schleck-Aktes): Mann und Frau liegen im Bett, wenn’s hoch kommt, mit entblößtem Oberkörper, wobei in vielen solcher deutschen TV-Szenen seltsamerweise die Frauen das Gehabthaben des Geschlechtsaktes mit anbehaltenem BH zu dokumentieren wünschen. Alles andere: Dialog, Pointen etc. wird abgelegt. Dagegen die Engländer. Sie geben Laut. In der Serie »Doc Martin« zum Beispiel. Ein höchst neurotischer Landarzt, der kein Blut sehen kann und jedes Klingeln erotischer Nachtglocken geflissentlich überhört. Babyhaftes Mondgesicht. Segelohren, die jeden Windstoß zum fortreißenden Dreinblasen einladen. Wagt einmal im Fond eines Taxis die Fingerspitzen einer neben ihm sitzenden Frau zu berühren. Die fällt daraufhin wild küssend über ihn her. Er presst so ektstatisch zurück, als habe er soeben eine neue Welt entdeckt, ein Knutsch-Columbus mit Kassen-Zulassung. Löst sich dann aber von ihren Lippen und sagt: »Ich gehe doch davon aus, dass du dir regelmäßig die Zähne putzt«. Danach kein Schnitt zum Bett. Kein Peinlichkeits-BH. Er fliegt einfach aus dem Taxi. Es braucht gar nicht viel, um zu sehen, warum englisches Fernsehen so viel besser ist als deutsches.