Wiedersehen mit Stadelmaier

Der Stellvertreter
Von Gerhard Stadelmaier, 4. Mai 2018
An einer Fußgängerunterführung, gekachelt, versifft, vergraffitiert, liegt ein Hut. Daneben ein kleiner Rucksack und ein Schildchen des Inhalts, dass, werfe man Geld in den Hut, ein »Wandersmann« sich darüber freue. Er selbst ist nicht anwesend. Nicht nur dadurch unterscheidet er sich von den Kollegen, die mehr oder weniger aggressiv ein Mitleid einfordernd oder eine Erbarmungswürdigkeit inszenierend an Kirchen- oder Theatertüren, in Fußgängerzonen und vor Kaufhauspassagen auf ihren gekritzelten Schildchen – wenn sie denn überhaupt noch diese altmodische Werbemethode benutzen - grausame Schicksale verzeichnen: »Arbeitslos, wohnungslos, hungrig« und dergleichen. Manchmal haben sie einen Hund neben sich kauern. So werfen sie ihre ganze Person in den Kampf ums Dasein. Unser Mann aber setzt sich nicht den gleichgültigen bis g’wissenswurmzernagten Blicken der Vorüberhastenden aus. Er demonstriert ihnen sein sozialfürsorglichstes Asozialen-Selbstbewusstsein: durch seinen Stellvertreter, den Hut. Und eine kluge Schicksalslosigkeit. Denn ein Wandersmann muss niemanden jucken, keiner sich bei einer Mitleidsabwehrregung ertappen lassen. Und das Stammtisch-Ondit, dass viele dieser Bettler à la »Dreigroschenoper« straff organisiert seien und abends der rumänische Peachum hinterm Kaufhof im Mercedes warte und die Tageseinnahmen abkassiere, läuft beim Wandersmann ins Leere. Schon nach wenigen Minuten ist der Hut gut gefüllt. Nach einer Stunde ist er weg. Der Wandersmann hat Wort gehalten.

Rentner Beckett
Von Gerhard Stadelmaier, 18. Mai 2018
Als Samuel Beckett im Jahr der Bundesgartenschau 1977 in Stuttgart weilte, um Becketts Fernsehspiele beim guten, alten SDR zu inszenieren, verschwand er jeden Tag für eine gewisse Zeit. Danach befragt, wo er sich immer herumtreibe, antwortete der Dichter: »Auf der Bundesgartenschau.« Auf die Vorhaltung, er, Beckett hasse und verachte doch alle Blumen, antwortete er: »Es ist nur wegen der Bäume«. Was als Fortschritt durchgehen mochte. Denn Beckett machte immer nur deshalb jedes Jahr Urlaub auf Malta, »weil es dort keine Bäume gibt«. Bei seinen Gängen durch den Schlossgarten (heute übrigens eine wahre Beckettsche »Stuttgart 21«-Wüstenei, aber dies nur nebenbei) fiel Beckett der Dame am Kassenhäuschen auf, beim dritten oder vierten Mal fragte sie ihn: »Saget Se mal, Sie send doch a alter Ma?!« Beckett, der das Schwäbische in seinem Lieblingslokal, der neonkahlen, bierlachenverpfützten »Neckarklause« (heute übrigens ein Dutzend-Italiener, aber dies nur nebenbei) gelernt hatte, nickte. – »Do send Se doch sich’r scho Rentner? Do dätet Se nemlich a Ermäßigong kriage.« – Beckett verneinte (Dichter gehen nicht in Rente). – »A was, kommet’Se, des macha m’r älleweil. Wia hoißet Se?« – »Beckett.« – »Also do isch ihr Dauerkärtle!« Und auf jenem stand deutlich: »Rentner Beckett.« Das Kärtle hat der Weltautor zu seinen Reliquien genommen, als ein schönes Beispiel, wie wundervoll absurd in Stuttgart die großen Dichter geehrt wurden. Es ist lange her.