Kracauers Materialsammlungen
Kracauers Nachlass offenbart eine Pedanterie des Alltäglichen. Akribisch notiert er Postaus- und -eingänge, trägt seinen neuen Haarschnitt gleichermaßen in seinen Kalender ein wie das tägliche Wetter, er führt Listen über seine Lektüre sowie über ein- und ausgegangene Geschenke. Es scheint sich fast um eine Festschreibung von Banalitäten, um eine allumfassende Buchführung zu handeln.
Besonders auffällig sind die ›Klebemappen‹ Kracauers, innerhalb derer er all seine geschriebenen Texte sammelt, nach Datum sortiert, teilweise mit handschriftlichen Ergänzungen und Korrekturen anreichert, häufig auch mit Notizen zur Berechnung des Zeilenhonorars. Digitalisate dieser Mappen werden in der Bibliografie mit den jeweiligen Werken verknüpft, sodass Sie nicht nur den Volltext aufrufen können, sondern auch einen Einblick in Kracauers selbstdokumentarische Sammlungen erhalten.
Doch Kracauers Materialsammlungen führen weit darüber hinaus. In den USA legt Kracauer unzählige braune ›Document Wallets‹ an. In diesen sammelt er eigene Sonderdrucke und Manuskripte, aber auch Bücher, Zeitschriften, Zeitungsausschnitte, Flyer, Programmhefte und Notizen zu Themen wie ›Sociology‹, aber auch zu einzelnen Personen wie Hans Robert Jauss, Theodor W. Adorno oder auch Charlie Chaplin. Die Materialsammlungen bilden somit einen Brückenschlag zwischen den bibliothekarischen und den archivarischen Kracauer-Beständen und werden als Unterbestand in unserer Mediendokumentation bewahrt. Sie geben einen Einblick in Kracauers Rezeption einzelner Artikel und Zeitschriften, sind aber mit den zahlreichen Widmungen und Notizen auch eine Ergänzung zu Kracauers Briefwechseln und Notizbüchern.
Innerhalb der ›Document Wallets‹ ordnet Kracauer noch einmal mit beschrifteten Briefumschlägen, wie die Abbildung zeigt:
Foto: Chris Korner, DLA Marbach
Es handelt sich hier um Kracauers Sammlung zu seinem langjährigen Freund Theodor W. Adorno. In dem Umschlag mit der Beschriftung Teddie: Music findet sich unter anderem ein 14-seitiges Typoskript von Adorno mit dem Titel Gesellschaft. Der Text erschien später im Evangelischen Staatslexikon, hrsg. von Hermann Kunst u.a., Kreuz-Verlag Stuttgart und Berlin 1966.
Kracauer hat auf der ersten Seite notiert, dass er den Text am 20. Januar 1966 erhalten hat, Adorno hatte ihm diesen zur Lektüre postalisch zukommen lassen. Es finden sich außerdem handschriftliche Notizen Adornos zur ‚Theorie mittlerer Reichweite‘ auf dem Typoskript. In einem Brief von 21. Dezember 1965 an Kracauer schreibt Adorno über seinen Text:
»Es handelt sich um eine kurze Arbeit, deren Umfang mir genau vorgeschrieben war und den ich nur auf einem Bein stehend erledigen konnte. Eben das hat mich gereizt, und vielleicht hat sie gewisse Eigenschaften einer declaration of intention, die mir nicht unwillkommen sind.«
[in: Theodor W. Adorno. Siegfried Kracauer. Briefe 1923-1966 hrsg. von Wolfgang Schopf (Theodor W. Adorno. Briefe und Briefwechsel, Bd. 7), S. 708.
An diesem kleinen Beispiel zeigt sich, dass die Materialsammlungen den Kracauer-Bestand erst vervollständigen und wertvolle Forschungseinblicke bereithalten.
Um die Materialsammlungen Kracauers unkompliziert zugänglich zu machen, haben wir Findbücher angelegt, die sowohl die Inhalte als auch Kracauers Ordnungssysteme en detail widergeben. Diese ermöglichen einen Zugang zu Kracauers eigens geschaffenen Sinnzusammenhänge und einen Überblick über die Materialien, die im Katalog nicht verzeichnet sind. Die verzeichneten Dokumente werden innerhalb der Findbücher mit Links zu unserem Katalog verknüpft, sodass sie direkt ausleihbar sind.
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