Michelle Pucciarelli im Gespräch mit Andreas Platthaus (Fortsetzung)
Was finden Sie an Karikaturen im Nationalsozialismus so interessant?
Dass es überhaupt welche gab. Die Karikatur ist per se kritisch; wenn sie sich auf die Seite der Macht schlägt, ist sie in meinen Augen keine Karikatur. Man kann von einem Zerrbild oder von einem Witzbild reden. Wirklich interessant an der Karikatur im Nationalsozialismus sind die Dinge, die inoffiziell liefen. Es gibt wenige, aber dafür umso bemerkenswertere Karikaturisten, die schon in der Weimarer Zeit begonnen hatten und unter den Nazis weiterarbeiteten. Der für meinen Geschmack beste deutsche Karikaturist, Erich Ohser, zeichnete unter den Nazis. Es ist spannend zu sehen, wie ein riesiges Talent und eine fantastische ästhetische Befähigung pervertiert und in den Dienst des Staates gestellt wurden. Ohser war weiß Gott kein Nazifreund, hat immerhin elf Jahre lang – bis zu seinem Selbstmord in Gestapohaft – unter NS-Bedingungen gearbeitet. Um sich klar zu machen, was da passiert ist, muss man sich seine Bilder ansehen.
Wie sind Sie auf Felix Hartlaub gestoßen?
Felix Hartlaub kannte ich als Schriftsteller. Er hat einen Ruf wie Donnerhall – nicht, weil er so wahnsinnig berühmt wäre; aber wenn man sich dafür interessiert, was in der Literatur der Fünfzigerjahre in Deutschland passiert ist, und nicht nur in Deutschland, kommt man an Hartlaub nicht vorbei. Hartlaub ist vermutlich 1945, in den letzten Tagen des Krieges, in Berlin gestorben. Es gab so gut wie nichts Publiziertes von ihm; alles, was wir von ihm kennen, sind Dinge, die in der Familie als Manuskripte überlebt haben. Ihr unglaublicher Erfolg geht auf die Art des Schreibens zurück, die man der nationalsozialistischen Zeit nicht zugetraut hätte. Hartlaub ist ganz klar Kafka-Schule, ein begeisterter Kafka-Leser, und ich kenne kaum einen deutschen Autor, der so früh schon so Kafka-ähnlich geschrieben hat. Es wäre sicher sehr spannend gewesen zu verfolgen, was aus ihm geworden wäre. Wenn man Lust hat, etwas wirklich Anspruchsvolles aus der Literatur dieser Jahre zu lesen, dann ist man mit Hartlaub extrem gut bedient.
Das Gespräch wurde im Rahmen des Schülerseminars »Felix Hartlaub lesen und entdecken« am 13. Oktober 2015 von der Schülerin Michelle Pucciarelli im Deutschen Literaturachiv Marbach geführt.